Der Gardasee ist einer der meistbesuchten Orte Italiens: Millionen von Touristen zieht es jährlich dorthin. Dies ist verständlich, bietet er Sonnenanbetern, Familien, Kulturinteressierten, Abenteurern und Sportbegeisterten gleichermaßen jede Menge Sehenswürdigkeiten und Freizeitangebote. In der Hochsaison ist die deutsche Sprache omnipräsent, vor allem in den Touristen-Hochburgen.
Ich hatte das Glück, meine ganze Kindheit und Jugend in einem kleinen Dorf namens Pai am Ostufer des Sees zu verbringen. Da der Gardasee Thema der neuen Adesso-Ausgabe ist, konnte ich es mir nicht verkneifen, eine kleine Ode an diese Oase der Ruhe und ihre Einwohner zu verfassen. Pai ist ein noch weitgehend unentdeckter, von Olivenbäumen umgebener Mikrokosmos jenseits der großen Massenattraktionen. Viele seiner geschichtsträchtigen Sehenswürdigkeiten sind den großen Touristenströmen bis heute verborgen geblieben.
Der Ort liegt am Fuße des Berges Monte Baldo, gehört zur Gemeinde Torri del Benaco und zählt um die 200 Einwohner, deren Nachnamen sich an einer Hand abzählen lassen. Der Name Pai geht vermutlich auf das Wort pali (Pfähle) zurück, da hier am Seeufer antike Pfahlbauten entdeckt wurden. Der Ort teilt sich in einen höhergelegenen Teil (Pai di Sopra) und einen am See gelegenen Teil (Pai di Sotto). Etwa einen Kilometer nördlich von Pai di Sopra befindet sich der Weiler Ca' Tronconi mit ca. 14 Einwohnern. Für uns Kinder war das Dorf mit seinen Gassen und der Berg mit seinen großflächigen Wiesen und Kletterbäumen damals wie ein riesengroßer Spielplatz.
Im befestigten Pai di Sopra und in den umgebenden Berghängen wohnten früher die Ackerbau- und Viehzuchttreibenden, am See dagegen die Fischer. Das waren die Hauptberufe der Bewohner des ganzen Gardasees, bevor der Tourismus ihn für sich entdeckte. Ein altes Sprichwort besagt, dass die Augen der Gardaseebewohner dem Wasser zugewandt sind, ihre Herzen dagegen den Bergen. Heute ist die Haupteinnahmequelle für viele Einheimische das kleine familienbetriebene Hotel oder das Restaurant mit Fischspezialitäten vom See. Auch meine Vorfahren, die früher auf dem Berg wohnten und vom Ackerbau und der Viehzucht lebten, entschieden sich in den 60er Jahren ein Hotel zu betreiben. Heute bleibt von ihrem damaligen Steinhaus hoch auf dem Berghang eine alte, von Kletterpflanzen eroberte Ruine, die ab und zu von wenigen Wanderern erforscht wird. Einige Familien produzieren noch mit größter Sorgfalt das goldfarbene und aromatische Olivenöl, das am Gardasee perfekte klimatische Bedingungen vorfindet. Die Arbeit im Olivenhain bleibt für manche Familien eine schweißtreibende und teilweise gefährliche Aufgabe, da die Olivenpflücker an steilen Berghängen arbeiten und auf hohe Leitern steigen müssen. Weintrauben und Zitronen sind weitere traditionelle Produkte, die am Gardasee noch heute angebaut werden.
Das Leben von Pai spielt sich rund um die Piazza San Marco, auch einfach nur piazza genannt, ab: Dort finden sich stets gesellige Dorfbewohner, die bei einem Kaffee oder einem Aperitiv für jedes Gespräch zu haben sind – im örtlichen Dialekt, auf Italienisch oder in gebrochenem Deutsch –, und selbstverständlich Verführungen für den Gaumen. Dem Duft der Holzofenpizza der Pizzeria Apollo oder des frisch gegrillten Seefisches des Ristorante San Marco kann kaum ein Passant widerstehen. Besonders im Sommer ist es ein Vergnügen, dort bei einem Glas Wein im Freien zu sitzen oder bei einem abendlichen Spaziergang vorbei an üppigen Olivenhainen den Zikaden zu lauschen. Die Senioren des Dorfes kennen die Stellen, an denen eine leichte Brise weht und sitzen dort in einer Reihe schwätzend nebeneinander.
Von der piazza aus führt ein kleiner Kieselsteinweg zur Pfarrkirche Chiesa di San Marco aus dem 15. Jahrhundert. In ihrem Inneren befinden sich ein Taufbecken aus dem Jahre 1522 sowie am Altar eine Darstellung der Madonna del Rosario (der Rosenkranz-Jungfrau) aus dem 15. Jahrhundert. Die Kirchenterrasse bietet eine einzigartige Aussicht bis zur nördlichsten Spitze des Sees, nach Riva del Garda. Eine ältere Kirche, das Oratorio di San Gregorio, wurde um das Jahr 1300 auf dem Friedhof in Pai di Sotto gebaut. Sie diente bis 1450 als Pfarrkirche. Ihren Innenraum schmücken Freskengemälde aus dem 14. Jahrhundert.
Zwei weitere Bauten fungieren als Zeugen der Vergangenheit. Ein öffentlicher Waschbrunnen aus Verona-Marmor, auch fontana genannt, befindet sich am Ortseingang in einem Tal und wird noch heute von frischem Bergwasser gespeist. Meine Großmutter erzählt, wie die Bewohnerinnen von Pai di Sopra vor der Erfindung der Waschmaschinen darin tagtäglich ihre Wäsche per Hand reinigten. Die Bewohnerinnen von Pai di Sotto taten dies dagegen im See.
Biegt man von der piazza aus in die Via del Monte Baldo ein, erreicht man einen alten, baubrüchigen Kalkbrennofen, die calcara. Dieser diente früher der Produktion von Mörtel, welcher wiederum die grundlegende Bausubstanz für die Steinhäuser darstellte.
Ein weiteres Highlight des Dorfes ist die grotta Tanella, eine seit 2003 für den Tourismus erschlossene Grotte. In der Höhle, die etwa 400 Meter tief ist, sind kleinere Stalaktiten- und Stalagmitenformationen zu sehen. Mit festem Schuhwerk und Taschenlampe gewappnet, kann man in Begleitung einer Höhlenforschergruppe die Grotte erkunden.
Der alte Turm von Pai di Sotto, der sich unmittelbar in der Nähe des Dampferstegs befindet, erfüllte im Laufe der Jahre verschiedene Funktionen: vom Restaurant oder Hotel bis hin zur Diskothek oder zum Heim eines berühmten tschechischen Seiltänzers. Heute behaust der Turm Wohnungen.
Was wäre das Dorf ohne den See? Natürlich ist und bleibt die größe Attraktion dieses in tausend Farben schimmernde und von dunkelgrünen Zypressen umgebene Wasser, das tagtäglich Dorfbewohnern und Besuchern einen majestätischen Anblick beschert. Jeden Tag genießt man hier ein neues Spektakel: Formen und Farben kombinieren sich in immer neuen Variationen, so dass ein Sonnenuntergang nie dem anderen gleicht. Die Dorfbewohner von Pai vergleichen die Silhouette des gegenüberliegenden Berges Pizzocolo mit dem Gesichtsprofil Napoleons. Sie stellen sich vor, wie er mit seiner spitzen Nase gen Himmel gerichtet am Rande des Sees liegt und die Ruhe genießt.
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